Die Zeugen by Simenon Georges

Die Zeugen by Simenon Georges

Autor:Simenon, Georges [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


FÜNFTES KAPITEL

Die silberne Glocke

Es war die längste Nacht seines Lebens. Mehrmals mußte er sich, in Schweiß gebadet und vor Angst bebend, aus den Abgründen eines drückenden Traumes befreien. Die Grenzlinie zwischen Traum und Wirklichkeit war nicht immer deutlich. Bisweilen war es ihm, als rutsche er wieder einen steilen gefährlichen Abhang hinunter und versuche vergeblich, sich an Gestrüpp festzuhalten. Dann wieder lag er vor Kälte zitternd ausgestreckt auf dem Rücken, starrte mit offenen Augen in das rötliche Licht, das aus dem Nebenzimmer hereinfiel, und lauschte auf den Atem seiner Frau.

Sofort nach der Verhandlung hatte er sich zu Fuß nach Hause begeben - ein Taxi zu nehmen wäre ihm bei dem kurzen Weg lächerlich vorgekommen -, und er hatte durch die offene Tür, während Anna ihm den Mantel abnahm, den für ihn gedeckten Tisch im Eßzimmer gesehen.

»Sagen Sie Leopoldine, daß ich nicht zu Abend esse. Es genügt, wenn mir nachher ein Glas Milch heraufgebracht wird.« Sie mußte gemerkt haben, daß er rot im Gesicht war und daß seine Augen mehr glänzten als gewöhnlich.

»Soll ich nicht den Arzt rufen?«

»Ich war schon bei ihm.«

Sie drängte nicht weiter. Für sie waren die reichen Leute - und Arbeitgeber waren in ihren Augen immer reiche Leute - aus einem anderen Teig geknetet als die gewöhnlichen Sterblichen, und es hatte keinen Zweck zu versuchen, sie zu verstehen. Ihre Auffassung entsprach derjenigen, die Alain Lhomond zu seiner Zeit von denen gehabt hatte, die man die Leute aus dem Volk nannte.

Er stieg mit der Mappe unterm Arm die Treppe hinauf, ging zuerst in sein Zimmer, wie er es immer tat, und trat leise an die Verbindungstür, um Laurence nicht zu stören, wenn sie schlafen würde. Sie saß im Bett und blickte ihn mit gerunzelten Brauen fragend an.

»Ich habe eine leichte Grippe«, sagte er in gleichgültigem Ton. »Ich war bei Chouard, der mir für alle Fälle eine Penicillinspritze gegeben hat. Ich esse lieber nicht zu Abend. Ich werde mich ins Bett legen und später ein Glas Milch trinken.«

Warum beobachtete er sie, als käme er von einer langen Reise zurück und müßte sich erst wieder an ihr Aussehen gewöhnen? In den fünf Jahren, die sie nun schon im Bett verbrachte, war sie sehr abgemagert und gealtert. Ihr Haar war grau. Sie kam ihm jetzt wie eine alte Frau vor, und manchmal fragte er sich, wenn er sich vor dem Spiegel rasierte, ob er auch so alt aussah. Er fühlte sich noch immer jung, konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß er schon fünfundfünfzig war und daß Freunde seines Alters Söhne hatten, die bereits Rechtsanwälte, Ärzte, Marineoffiziere waren.

»Glaubst du, daß du morgen ins Gericht gehen kannst?«

»Ich muß wohl. Hattest du einen schlechten Tag?«

»Keinen allzu schlechten.«

Zeitungen lagen ausgebreitet auf ihrem Bett, und einige der Abendblätter brachten schon einen ausführlichen Bericht über die Sitzung des Vormittags und über einen Teil der Nachmittagssitzung. Es war ihm gar nicht recht, ja es beunruhigte ihn, daß sie sie gelesen hatte.

»Wirst du gleich schlafen?« fragte sie noch.

»Ich glaube nicht. Ich werde versuchen, im Bett die Akten noch einmal durchzusehen.«

Jeden Tag sprachen sie so miteinander, und jeden Tag empfanden sie das gleiche peinliche Gefühl.



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